bi Hauptsammleruntersuchung

 

Es ist dunkel, glitschig - und es stinkt. Etwas Mut ist schon erforderlich, um die fünf Meter unter der Erde in den großen Abwasserkanal zwischen Alicenstraße und Klärwerk zu klettern. Das 110 Jahre alte Bauwerk wird für rung 500.000 Euro überprüft und vermessen. Unser Redakteur durfte den Arbeitern zusehen.

von Guido Tamme

Da ich ahne, was auf mich zukommt, habe ich Gummistiefel mitgebracht. Doch die Männer von den Mittelhessischen Wasserbetrieben schütteln den Kopf und stecken mich in einen viel zu großen Watanzug. Doch damit nicht genug: Auf den Kopf kommt ein Helm mit Lampe, um den Oberkörper ein Klettergeschirr und vor die Brust ein Selbstretter mit Natronpatrone für den Fall, dass die Luft im Kanal plötzlich zu viel Gas enthält. Ein wenig mulmig wird mir schon, obwohl der Verstand mir versichert, dass die Profis ihren Gast niemals in eine gefährliche Situation bringen würden.

335 Liter Wasser rauschen normalerweise pro Sekunde durch den 1,5 Kilometer langen Hauptsammler, der zwischen 1906 und 1910 mit Gail-Klinkersteinen gemauert wurde. Bei unserem Besuch fließt das trübe Wasser etwa 20 Zentimeter hoch. Das ist relativ wenig, weil es in den letzten Tagen nicht geregnet hat. Der nasse Schmutz an den Wänden zeigt, wie hoch der Pegel sonst oft reicht. Außerdem wird für die Arbeiten Gießens Abwasser abends derzeit aus dem Hauptsammler umgeleitet. Zu erkennen ist das unter anderem auf den Lahnwiesen. Dort führt eine Behelfsleitung in den Weststadtsammler und von dort ins Klärwerk. Wenn es regnet, muss die Arbeit trotzdem unterbrochen werden.

Mit einer Seilsicherung klettere ich durch einen großen Schacht vier Meter senkrecht hinunter auf eine kleine Plattform. Begleitet werde ich von den MWB-Fachkräften Alfred Schmitt und Manuel Nowak, die Verhaltenstipps geben: Vorsichtig sein, nur kleine Schritte, eine Hand an der Wand entlang und immer mit Hindernissen rechnen. Von oben passt Hans Künzel auf: Der »Aufsichtsführer Kanalbetrieb« hat das Besuchsprogramm in der Unterwelt organisiert.

Im Kanal ist es dunkel, glitschig und es stinkt, wenn auch nicht so schlimm wie befürchtet. Das Ziel ist der Zufluss aus dem Südviertel, der etwa in halber Höhe in den zwei Meter hohen Kanal schießt. Wir waten im Gänsemarsch über den rutschigen Untergrund, auf dem auch Steine liegen. Die 40 Meter scheinen unendlich lang. Der Rückweg ins Helle ist jedenfalls angenehmer.

Die Großinspektion des Hauptsammlers ist noch nicht abgeschlossen, ein Ergebnis steht dennoch fest: Der gemauerte Kanal zwischen Alicenstraße und Klärwerk muss repariert werden. Fast auf seiner gesamten Länge ist ein Scheitelriss festgestellt worden. Der ist zwar manchmal nur einen Millimeter, an einer Stelle aber sogar eine Steinreihe breit.

Für MWB-Projektbetreuer Till Roman Riedel kommt das nicht überraschend: »Es liegt an der Hanglage, in die der Kanal verlegt wurde: Von der einen Seite drückt es, der Gegendruck ist geringer.« Es sei normal, dass diese ungleiche Statik das stabile Bauwerk im Laufe der Jahrzehnte beschädigt hat. Den Scheitelriss habe ich übrigens nicht bemerkt. Ich habe meine ganze Aufmerksamkeit nach unten gerichtet.

(Bericht der Gießener Allgemeinen vom 22.04.2016)