Starkregen im Juni 2016

Starkregenereignis im Juni 2016.

Wie Gießen auf extremes Wetter vorbereitet ist

Bei den Mittelhessischen Wasserbetrieben (MWB) hat man die Wettervorhersagen für Gießen stets im Blick und kann schnell reagieren, wenn als Folge von Starkregen Kanäle und Gewässer überzulaufen drohen. Doch das ist nur eine von vielen Aufgaben der Mitarbeiter.

von red

GIESSEN - Wasser hat keine Balken – diese uralte Weisheit hat sich bei den katastrophalen Überflutungen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz einmal mehr bestätigt. Etwa 180 Tote und noch weitaus mehr Verletzte sind zu beklagen, ganze Ortschaften sind komplett verwüstet worden, viele Menschen haben ihr gesamtes Hab und Gut verloren und stehen an einem Neuanfang. Könnte so etwas auch in Gießen passieren? Und ist die Universitätsstadt auf extreme Wetterereignisse wie Starkregen mit Überschwemmungen überhaupt ausreichend vorbereitet? Um hierauf Antworten zu erhalten, hat der Anzeiger mit den Experten der Mittelhessischen Wasserbetriebe (MWB) gesprochen, dem Wasserversorger und Abwasserentsorger der Stadt Gießen.

Was die erste der beiden Fragen angeht, können MWB-Betriebsleiter Clemens Abel und Oliver Friedl, der das Sachgebiet Wasserbau und Hochwasserschutz leitet, sogleich etwas beruhigen. Denn die geographische Lage der Lahnstadt sei mit derjenigen der Katastrophenregionen nicht vergleichbar. Während es dort enge Täler gibt, welche die Fließgeschwindigkeit von Wasser stark erhöhen und es auch schneller und auf kleinerer Fläche ansteigen lassen, „kann sich das Wasser im Gießener Becken besser ausbreiten“, verdeutlicht Abel. Die Dämme links und rechts entlang der Lahn – die im Falle der früher häufiger überschwemmten Weststadt erst vor rund zwölf Jahren erneuert und erhöht wurden – seien „auf ein 100-jähriges Hochwasser zugeschnitten“. Also eines, das rein statistisch nur einmal in diesem Zeitraum zu erwarten ist. „Für ein 1000-jähriges Hochwasser würden sie aber nicht ausreichen“, ergänzt der Betriebsleiter. Wollte man sich auch darauf vorbereiten und die Schutzdämme weiter erhöhen, wäre das vor allem eine Platz- und Kostenfrage. „Bei einer Erhöhung um einen Meter, müsste der Damm vier Meter breiter werden“, rechnet Clemens Abel vor. Um starken Pegelanstiegen entgegenzuwirken, gibt es zusätzlich Retentionsflächen, also neben einem Fließgewässer zumeist tiefer liegende Bereiche, die im Falle eines Hochwassers als Überflutungsfläche genutzt werden.

Es ist allerdings nicht ausschließlich der Anstieg des Lahnpegels als die infolge des Klimawandels beobachtete Zunahme örtlich begrenzter Starkregenereignisse, die den Experten Sorgen macht. Als Beispiele nennt Oliver Friedl relativ kurze und heftige Regengüsse in den Jahren 2017 und 2018, „die innerhalb von zwei Stunden bis zu 75 Liter Wasser pro Quadratmeter“ auf Gießen niedergehen ließen. Und das jeweils in stark begrenzten Bereichen, sodass das Kanalnetz dies nicht komplett aufnehmen konnte und das Wasser aus den tiefer liegenden Schächten austrat und innerhalb kürzester Zeit Fahrspuren und Keller überflutete. „Starkregen ist örtlich begrenzt und nie ganz genau vorhersehbar“, betont Friedl. Wie Abel erläutert, würden sich solche Starkregenbereiche häufig erst über der Stadt – die durch ihre Betonflächen mehr Wärme als das Land drumherum ausstrahlt – aufbauen, nachdem dies vorher noch normale Regenwolken waren. Schon bei einer um ein Grad Celsius höheren Temperatur sei sieben Prozent mehr Wasser in der Luft gebunden, das dann abregnen kann. Ein Temperaturunterschied zwischen Stadtmitte und Stadtrand von mehreren Grad sei nichts Ungewöhnliches und werde künftig wohl noch häufiger auftreten. „Daher werden wir uns noch intensiver damit und den Folgen beschäftigen müssen“, ist dem Betriebsleiter bewusst.

Was das Auffangvermögen von Regenwasser in dem circa 500 Kilometer langen Gießener Kanalnetz mit seinen rund 13000 Grundstücksanschlüssen betrifft, ist trotz des Alters – „Ein Kanal hält 80 Jahre, sagt man“ – auch jetzt „noch Luft nach oben“, versichert Clemens Abel. Zumal über das Stadtgebiet und die Ortsteile verteilt derzeit 16 Pumpstationen, 20 Regenentlastungsbauwerke und 31 Regenrückhaltebecken zwischengeschaltet sind. Werde eine neue Siedlungsfläche angelegt, sei zudem vorgeschrieben, jedes Mal auch ausgleichende Rückhalteanlagen anzulegen, berichtet Abel. „Wenn aber zu viel Wasser zu schnell kommt, kann ein Kanaldeckel auch mal überlaufen“, macht Oliver Friedl auf die Grenzen aufmerksam. Schließlich werden im städtischen Kanalnetz pro Jahr ohnehin etwa 23 Millionen Kubikmeter Schmutz- und Regenwasser transportiert. Daher komme den aktuell laufenden Vermessungen der Kanäle und Grundstücksanschlüsse mittels 3D-Laserscantechnik durch den MWB eine wichtige Bedeutung zu. „Dabei lässt sich erkennen, wo Wasser nicht gut abgeleitet wird, wo etwas nicht richtig abgedichtet ist oder wo an Abwasseranlagen auf Privatgrundstücken baulich etwas verändert werden muss“, erklärt Clemens Abel. Ihm ist es wichtig, dass auch Eigentümern bewusst ist, welch wichtigen Anteil sie daran haben, Überflutungen zu verhindern oder zumindest zu minimieren.

Um ihre Schutzmaßnahmen künftig noch verfeinern zu können, greifen die Mittelhessischen Wasserbetriebe auch auf die Unterstützung des Landes zurück, genauer gesagt, auf das Hessische Landesamt für Naturschutz, Umwelt und Geologie (HLNUG). Am dortigen Fachzentrum Klimawandel und Anpassung wird derzeit eine sogenannte Fließpfadkarte für die Stadt Gießen und die Ortsteile Allendorf/Lahn, Kleinlinden, Lützellinden, Rödgen und Wieseck mit Computern errechnet, lässt eine Sprecherin auf Nachfrage wissen. Das Ganze geschehe im Auftrag der Kommune. Allerdings sei die Universitätsstadt bei Weitem nicht die einzige Kommune Hessens, die an einer solchen Übersichtskarte großes Interesse hat. „Seit den schrecklichen Ereignissen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz haben wir über 100 Anfragen bekommen“, berichtet die HLNUG-Vertreterin von einer entsprechend langen Warteliste. Diese Fließpfadkarten geben einen Hinweis darauf, wie und welcher Richtung das Wasser abhängig von der jeweiligen Topographie fließt. „Die Kommunen können dadurch die Gefahren besser abschätzen.“

Doch während die Aussagekraft der Karte selbst bei Starkregenereignissen für den Stadtrand und Vororte sehr gut wäre, sei das bei den Innenbereichen weniger der Fall. „Hier ist die Infrastruktur entscheidend“, sagt die Expertin. Gebäude und versiegelte Flächen üben einen enormen Einfluss aus. Um auch für diese Bereiche Voraussagen zum Abfluss des Wassers treffen zu können, braucht es Computersimulationen und 3D-Modelle, etwa durch darauf spezialisierte Ingenieurbüros. Die wiederum benötigen für eine detailgenaue Analyse eine gewaltige Rechnerleistung. „Was heute in fünf Minuten berechnet werden kann, hätte vor 30 Jahren ein halbes Jahr benötigt“, verdeutlicht Clemens Abel die Anforderungen an die Technik. Seit einem Jahr beschäftigen die MWB zudem einen Hydrauliker, der eine Datenbank zur Abschätzung von Gefahrenstellen aufbaut. Dazu ist man das 500 Kilometer lange Kanalnetz „Stück für Stück durchgegangen“. Bei vier Rechenpunkten pro Quadratmeter „sind Millionen von Punkten zusammengekommen“, erläutert Oliver Friedl. Aus den daraus entstehenden 3D-Geländemodellen lasse sich erschließen, an welchen Stellen in der Stadt die Wahrscheinlichkeit höher ist, dass es etwa infolge von Starkregen zu mehr oder weniger heftigen Überflutungen kommen kann. Obwohl Gießen bezüglich solcher Modelle noch relativ am Anfang stehe, „sind wir doch damit weiter als die meisten anderen hessischen Städte“, betont Abel.

Personell sind die Mittelhessischen Wasserbetriebe ebenfalls auf Notfälle vorbereitet. Von den rund 115 Mitarbeitern wird eine ständige Bereitschaft vorgehalten, um bei starken Regenfällen – natürlich hat man die Wettervorhersagen stets im Blick – sofort und rund um die Uhr auszurücken. „Wenn Not am Mann ist, können wir das auf bis zu 40 Leute erhöhen“, sagt der Betriebsleiter. In extremeren Fällen könnten auch weitere städtische Beschäftigte, beispielsweise vom Ordnungsamt, hinzugeholt werden. Aufgabe all dieser einsatzbereiten Mitarbeiter ist es, „neuralgische Punkte“ in Stadt und Ortsteilen zu kontrollieren, wo der Erfahrung nach ein größeres Risiko für Überflutungen besteht. „Wir sind in der Lage, Prognosen abzugeben, welche Stellen eher als andere betroffen sind. Dann können wir auch die Bevölkerung warnen.“ Besonderes im Auge behalten werden müssen zum Beispiel bestimmte neuralgische Punkte, die schneller dazu neigen, durch Unrat oder Äste zu verstopfen beziehungsweise weniger Wasser ins Kanalnetz durchzulassen. Sollte es zu einer Überschwemmung kommen, können die MWB auf ihre eigene Sandsackfüllmaschine zurückgreifen. Säcke und Sand dafür sind stets vorrätig. Außerdem besitzt man zwei Hochleistungspumpen und weitere Pumpen. In der Minderung des Hochwasserrisikos und speziell im Einsatzfall koordinieren und bündeln die MWB und die Kollegen des Amts für Brand- und Bevölkerungsschutz ihre Kräfte in enger Abstimmung.

Abseits von Extremwetter-Ereignissen haben die MWB-Leute gut damit zu tun, die rund 15000 Sinkkästen – besser bekannt unter der Bezeichnung Gullys – sauber und offen zu halten. „Je nach Standort müssen sie seltener oder häufiger gereinigt werden“, Letzteres etwa dann, wenn sie sich unter einem Baum befinden und Laub hineinfällt, berichtet Friedl. „Während bei manchen Sinkkästen nur alle drei Jahre eine Reinigung ansteht, ist das bei anderen schon nach einem halben Jahr notwendig.“ Wobei es nicht selten auch auf das nächste Mal verschoben werden muss, wenn zum Beispiel gerade ein Auto darauf parkt. Der Reinigungsvorgang selbst ist technisch eigentlich ziemlich simpel: Man hält mit dem Betriebsfahrzeug darüber an und elektronisch vom Fahrer gesteuert erledigen die unter dem Wagen angebrachten Apparaturen wie Bürsten und Absaugrohr ihre Arbeit. „Viele Bürger wissen gar nicht, welche Aufgaben wir beim MWB alle haben und wofür sie ihre Abwassergebühren bezahlen“, bedauert Clemens Abel ein wenig.


(Bericht des Gießener Anzeigers vom 19.09.2021)