Synthesefaserschlauchliner

Ein Synthesefaserschlauchliner wird bei der Sanierung in den Kanal gestülpt.

Dem Abwasser standhaft getrotzt

Als der Abwasserkanal an der Lahnstraße vor über 110 Jahren fertiggestellt wurde, war Wilhelm II. deutscher Kaiser, die erste elektrische Straßenbahn war seit zwei Jahren in Betrieb und Gießen war die Hauptstadt der Provinz Oberhessen. Das geschichtsträchtige Klinkerwerk hat richtig lang gehalten: Nach über 100 Jahren wird der Kanal nun saniert - auf 470 Metern.

von red

GIESSEN - Wir schätzen, dass der Kanal zwischen 1908 und 1910 auf der Gesamtlänge von 1,5 Kilometern gebaut wurde«, schilderte Jürgen Fleischhauer von den Mittelhessischen Wasserbetrieben kürzlich im Gespräch. Der große gemauerte Kanal führte damals wie heute Wasser aus Gießen und dem Umland zum nahegelegenen Klärwerk.

Der Mischwasserkanal, bestehend aus Regen- und Schmutzwasser, trotzte all die Jahre dem Abwasser standhaft, vor einigen Jahren wurden jedoch erste Probleme bezüglich der Statik festgestellt. »Die Klinkersteine und das Fugenmaterial haben standgehalten, aber wir haben bei Inspektionen Deformationen festgestellt«, so Fleischhauer. Der 1,95 Meter hohe und 1,50 Meter breite Kanal mit seinem eiförmigen Profil und den Klinkersteinen des damaligen Gail’schen Werkes ist ein wahres Gießener Unikat - und sehr haltbar. »Wir gehen bei modernen Kanälen von einer Haltbarkeit von 80 Jahren aus«, berichtete der Experte.

Bei besagter Untersuchung vor fünf Jahren wurde jedoch schnell klar, dass es auf einem Teilstück von 470 Metern Handlungsbedarf in Form einer Sanierung gäbe. Diese technisch anspruchsvolle Aufgabe könne nach Fleischhauer nicht jede Firma problemlos bewältigen. »Ein Synthesefaserschlauchliner wird in den Kanal gestülpt. Das bedarf einiger Vorbereitungsmaßnahmen und vor allem: Viel Wasserdruck«.

In Richtung Klärwerk werde das Team 190 Meter sanieren, in Richtung Stadt 270. Das geschehe in zwei Etappen, da der Schlauch rund drei Tage aushärten müsse, um stabil zu sitzen. »Zunächst führen wir heißes Wasser zu, damit alles aushärten kann. Dadurch wird das Erdreich jedoch warm, deswegen müssen wir nach dem Aushärten alles wieder runterkühlen. Das ist viel Aufwand und es bedarf einiges an Wasserkraft«, erzählte Fleischhauer. Ein weiteres Problem, was den Bauarbeitern schon von Beginn an klar war: Das städtische Abwasser. »Das Wasser aus der Stadt läuft immer. Wir haben die 470 Meter trockengelegt und pumpen das Wasser quasi um den Kanal herum. Das ist auch ein großer technischer Aufwand«, schilderte der Mitarbeiter der Wasserbetriebe und verweist auf die Rohrstränge, die entlang der Baustelle verlaufen. Das Team hatte eine Wasserhaltung aufgebaut, damit der Kanal trockengelegt werden kann. Dazu wurden zwei Druckleitungen aufgebaut und das Wasser wird zwischenzeitlich umgepumpt. »Während einer Trockenzeit haben wir 400 Liter pro Sekunde, bei Starkregen bis zu 1600 Liter. Abwasser kann man eben nicht abstellen«, so Fleischhauer schmunzelnd. Das bedeutet im provisorischen Pumpenwerk auch technische Höchstleistung. Drei Pumpen stehen bereit, bei einer Trockenperiode läuft eine davon. Viel Aufwand für 470 Meter, meint auch der Sachbearbeiter. »Die eigentliche Sanierung kostet 700 000 Euro. Die Instandhaltung und die provisorische Wasserstraße kosten nochmal das Gleiche. Die Gesamtkosten belaufen sich also auf 1,4 Millionen Euro«.

Sanierung in zwei Etappen

Doch wie kommt der Schlauch in den Kanal? »Wir arbeiten ohne Zugkraft, nur mit Wasserkraft. Der Liner liegt eisgekühlt auf einem überlangen Lkw bereit und wird Stück für Stück mittels heißen Wassers in den Kanal geleitet«, so Fleischhauer. Würde der Bautrupp den Liner nicht kühlen, würde dieser noch auf dem Lkw aushärten und das Projekt wäre direkt zu Beginn gescheitert.

Ebenso war der Anfahrtsweg des Kolosses eine Herausforderung. Die Anlieferung der Großtransporte erfolgte über das Firmengelände der Ludwig Kreiling GmbH, deren Arbeiten sind teilweise durch die Bauarbeiten behindert. »Ohne die Einwilligung der Firma wäre die Maßnahme nicht realisierbar gewesen«, hob der Sachbearbeiter hervor.

Dass die Sanierung eines so geschichtsträchtigen Kanals keine Alltäglichkeit ist, dem ist sich auch Fleischhauer bewusst. »Überlegen Sie mal, was der Kanal alles schon mitgemacht hat in den Jahren. Wir wissen, dass er einmal mit Beton ausgebessert wurde, da vermuten wir einen Bombentreffer. Aber ansonsten trotzt das Klinkerwerk seit über einem Jahrhundert dem Abwasser. Eigentlich unglaublich.«

(Bericht der Gießener Allgemeinen Zeitung vom 06.10.2021)